(Von Johannes M. Becker, Konfliktforscher, Pressesprecher der BI Verkehrswende Marburg)
Um gleich mit der schlechtesten Entwicklung zu beginnen: Die großen Autokonzerne verlangen derzeit (18.4.2020) von den politischen Gremien eine rasche Wiederaufnahme ihrer Volllast-Produktion, verlangen gar vom Staat die berüchtigte „Abwrackprämie“ – das alles natürlich ökologisch verbrämt. Das Ziel: Die Krise zum Umsteuern nutzen in Richtung Elektro(Auto)mobilität.
Wer gedacht hatte, das Gesundheitsdesaster und in seiner Folge bemerkenswerte Entwicklungen im Verkehrsverhalten (spürbarer Rückgang des Automobilverkehrs, Zunahme der Nutzung des Fahrrades)
würden die „große Politik“ zum Nachdenken und Umsteuern bringen, sieht sich gerade böse enttäuscht. Werfen wir einen Blick auf das Gutachten der berüchtigten Leopoldina-Gruppe, in dem es am
Ende heißt: "An einer marktwirtschaftlichen Wirtschaftsordnung festhalten. Die in der Krise getroffenen wirtschaftspolitischen Maßnahmen müssen sobald wie möglich zugunsten eines nachhaltigen
Wirtschaftens im Rahmen einer freiheitlichen Marktordnung rückgeführt oder angepasst werden. Dazu gehören der Rückzug des Staates aus Unternehmen, sofern krisenbedingt Beteiligungen
stattfanden, und der Abbau der Staatsverschuldung. An der Schuldenbremse ist im Rahmen ihres derzeit geltenden Regelwerkes festzuhalten. Dies erlaubt, gerade in so besonderen Zeiten wie
diesen, eine deutlich höhere Verschuldung, verlangt aber bei Rückkehr zur Normalität wieder deren Rückführung."
Das heißt im Klartext: Die Nationale Akademie der Wissenschaften empfiehlt den Herrschenden, so weiterzumachen wie bisher. Umsteuern durch zukunftsweisende Infrastruktur-Investitionen ist
nicht einmal im Gesundheitswesen angedacht. Von der Verkehrspolitik ganz zu schweigen!
Dabei liegen hier die Probleme wie aber auch die Chancen buchstäblich auf der Straße!
• Viele Menschen steigen derzeit auf das Fahrrad um, und zwar nicht nur zu Freizeitzwecken.
• Dieser Trend wird sich fortsetzen und verstärken bei Semesterbeginn und mit dem Wiederanlaufen der Lehrtätigkeit an Schulen.
• Viele Menschen jeglichen Alters bemerken die Verminderung des Lärms und der Abgasemissionen sehr positiv.
• Plötzlich kann Deutschland gar auf das Erreichen der Klimaziele im Jahr 2020 hoffen…
• …
Was jetzt dringend angegangen werden muss:
1. Auf nationaler Ebene:
a) Das Verbot von Inlandsflügen.
b) Der strukturierte Ausbau des ÖPNV und des nationalen (wie grenzüberschreitenden) Bahnverkehrs.
c) Hier müssen insbesondere Konzepte der Kundenbindung erarbeitet werden, damit nicht Massen von Menschen aus Angst vor Ansteckung mit Viren von ÖPNV und Bahn auf den MIV umsteigen. Hier
müssen Ausgrenzungen dringend vermieden werden. Der ÖPNV muss quantitativ und Qualitativ ausgebaut werden.
d) Vor der Krise für „unmöglich“ erklärte mobilitätsvermeidende Telefonkonferenzen, SKYPE-Treffen oder vieles mehr ist ebenso auf seine langfristige Tauglichkeit zu überprüfen wie
(vernunftgesteuertes) Homeoffice: Hier kann ungemein viel Verkehr eingespart werden! Generell sollte die Krise auch dringend genutzt werden, über den in den vergangenen Jahrzehnten
gewachsenen Arbeitsstress (wie auch bestimmte Formen des Konsumwahns) zu reflektieren.
e) Insgesamt müssen Produktion, Zirkulation und Reproduktion unserer Gesellschaften neu geregelt werden. Die rücksichtslose Gewinnerzielung darf nicht weiter das leitende Moment dieser drei
Faktoren sein.
f) …
2. Auf regionaler und lokaler Ebene:
a) Sperrung von Straßen für den MIV und Umwidmung in Fahrradstraßen oder, besser noch, verkehrsberuhigte Shared-Space-Bereiche. In Marburg muss – nur ein Beispiel - der Pilgrimstein bis zum
Parkhaus für Autos gesperrt werden! Und nicht für Radler*innen!
b) Städte wie Marburg müssen den anstehenden Schulbeginn und damit die enorm steigenden Nutzungsmöglichkeiten (viele Schüler*innen werden den ÖPNV zunächst meiden) für das Fahrrad nutzen, um
jetzt Straßen und Fahrspuren umzuwidmen!
c) Die Umstrukturierung der Verkehrssituation in Schulzentren, bspw. in der Leopold- Lukas-Straße, muss JETZT angegangen werden!
d) Die neuen Verkehrsregeln betreffend den Fahrradverkehr, vor allem betreffend den Abstand, können und müssen jetzt kommuniziert und eingeübt werden.
e) Das Konsum- und Versorgungsverhalten kann und muss in der aktuellen Lage überdacht und transformiert, gar revolutioniert werden: Der Irrsinn der Lebensmittelverschickung zum Zwecke der
Steuerersparnis muss verboten werden. Regionale und ökologische Versorger*innen und ihre Lieferketten sind zu stärken.
f) …
Wir können die akute Krise für ein langfristiges Umdenken und Umsteuern nutzen – auch in der Verkehrspolitik! Dabei scheint es außer Zweifel, dass auch die Grundfesten des politischen und
wirtschaftlichen Denkens und Handelns unserer Gesellschaft zur Disposition stehen. Die „marktwirtschaftliche Wirtschaftsordnung“ muss abgelöst werden von zutiefst demokratischen Formen der
Politik und des Wirtschaftens. Lasst uns damit in Marburg beginnen!
Die Stadt Marburg hatte groß eingeladen zu der Veranstaltung "Impulse für ein nachhaltiges Mobilitätsverhalten". Sogar der HR-Moderator Thomas Ranft (alle Wetter) wurde dafür als Moderator bemüht. Aber wie ist nun die Veranstaltungsreihe Marburger Dialog zur Verkehrsentwicklung für die Umsetzung einer Verkehrswende zu bewerten?
Zunächst wird sie sich das ganze Jahr hinziehen und wird etliche Energie binden. Unweigerlich fühlt man sich daran erinnert, wie der Radverkehrsplan über viele, viele Jahre diskutiert, beraten und mit Beteiligung einer Firma erstellt wurde. Der Radverkehrsplan mit sehr konkreten Maßnahmen zur Förderung des Radverkehrs existiert nun, aber es gibt keinen konkreten Plan, wann welche Maßnahme umgesetzt wird. So hat leider auch die Schaffung von Radwegen in der Elisabethstraße und in der
Bahnhofstraße Jahre gedauert. Warum setzt man nicht die Maßnahmen nach einem transparenten Zeitplan um? Und diesen Eindruck der Verschleppung über Jahre bzw. der Aussetzung gewinnt man nun auch bei dieser Veranstaltungsserie. Bei dem ersten Dialog zur Verkehrsentwicklung kamen jedenfalls nur wenige aus dem Publikum zu Wort. Man will erst mal die Stimmung erfassen. Sind denn die Marburger und die Menschen aus der Umgebung dafür, ihr Auto stehen zu lassen? Dazu stand der Vortrag des Psychologen Bamberg in einem gewissen Kontrast. Denn demnach wurde verdeutlicht, wie sehr sich das Verhalten beeinflussen lässt und somit auch das Mobilitätsverhalten. Auch wurde die Aussage getroffen, dass man sich schon für die Bevorzugung des Radverkehrs entscheiden muss, denn beides, der auto- und der fahrradgerechte Ausbau ist nicht zu haben. Das widerspricht sich nämlich. Warum wird dann nicht Schritt für Schritt der schon längst bestehende Radverkehrsplan umgesetzt und der öffentliche Verkehr weiter ausgebaut, bzw. auf innovative schnell umsetzbare Verkehrstechnik wie Seilbahn gesetzt? Es ist doch längst in der Verkehrsplanung bekannt, dass die Menschen zu einem anderen Verkehrsverhalten eingeladen werden müssen. Sonst wird man den Teufelskreis nicht unterbrechen, der da lautet: es ist zu gefährlich und angesichts des Lärms und der Abgase zu unangenehm zu Fuß oder mit dem Rad unterwegs zu sein und zu umständlich und zeitraubend mit dem öffentlichen Verkehr zu fahren, dann fahre ich doch lieber Auto und wundere mich, dass ich im Stau stehe. Es scheint, dass die Stadt Marburg mit diesem Dialog zur Verkehrsentwicklung in Sachen Verkehrswende in erster Linie Zeit gewinnen will. Angesichts des Klimawandels und des von der Stadt beschlossenen Klimanotstandes mutet das sehr seltsam an. Hat der Oberbürgermeister und Arzt in einer Person vergessen, das Notstand auch zügiges Handeln erfordert?
Bericht aus dem Spiegel
Webseite: www.einstieg-in-den-umstieg.de
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Artikel zum Thema in der Süddeutschen Zeitung vom 14.01.2018
Bündnis Verkehrswende Wiesbaden
(interessante Homepage zur Verkehrswende in Wiesbaden)